NGOgraphy

Folgt man der Einschätzung Michael Hardts und Antonio Negris in ihrem Versuch, die postmo­derne Welt­ordnung als "Empire" nachzuvollziehen, dann zählen Nichtregierungsorganisationen zu den wirk­mächtigsten Akteuren, wenn es darum geht – 'gerechten Krie­gern' gleich – moralische Inter­ventionen im Interesse des globalen Flows zu betreiben. Denn "weil NGOs nicht direkt einer Regie­rung unterstehen", so erklären die beiden Theoretiker deren Wirkmacht, "wird unterstellt, dass sie auf der Grundlage ethischer oder moralischer Prinzipien handeln" (S. 50).

 

Diese Beurteilung drückt beispielhaft die kritische Gegenbewegung zu einer sozial­wissenschaftli­chen Forschung aus, die Nichtregierungsorganisationen im Modus der Zuversicht und Sympa­thie als emanzipatorische und demokratisierende Akteure begleitet(e). Was im einen wie im anderen Fall jedoch unberücksichtigt bleibt, ist "the heterogeneity of histo­ries and pro­cesses from which NGOs emerge and within which they operate" (Fisher, 450). Da­von ein ethno­graphi­sches Verständnis zu entwickeln und dabei bestenfalls nicht zurückzufallen in die Fixierung auf die great divide (N/GO, un/abhängig, in/direkt etc.), die kritische und sympathi­sierende Posi­tionen zu NGOs eint, freilich mit unterschiedlichem Ausgang (Zuversicht vs. Ent­täu­schung) – das hat sich die "NGOgraphy" zum Auf­trag gemacht.

 

Die Herausbildung der "NGOgraphy" fällt mit einer Tendenz zusammen, auf die der US-Anthropologe Paul Rabinow im Zusammenhang seiner Gedanken zu den "Transformations of the Student Body" aufmerksam gemacht hat (S. 41 ff.): Demnach seien Studierende der Ethnologie(n) seit den 1990er Jahren weniger interessiert "in the cultural Other and the classical themes like ritual, myth, magic, and the romance of far-away places". Was junge Menschen stattdessen immer häufiger in die ethnologischen Disziplinen führe, sei ihr "political interest", ihre "humanitarian ideals and values" und ihr Engagement für NGOs. Um auf die Herausforderung, die sich für die Ethnologie damit stellten, zu reagieren – wenn es ihr darum gehe, die Studierenden in das Fach zu integrieren –, schlägt Rabinow zwei Wege vor: "One is public culture and/or postcolonial studies. The other is to teach them tools to analyze what they're interested in, namely humanitarianism and its related discourses – capitalism, or the life sciences, or globalization" (S. 42).   

 

Die Erkenntnismöglichkeiten der "NGOgraphy" wurden während des Aufenthalts in Kiew in der Begegnung mit (lokalen) NGOs und den gesellschaftlichen Zusammenhän­gen, in wel­chen und für_gegen welche sie in der Ukraine wirken, empi­risch erprobt. Von den Studierenden wurden dazu bereits im Vorlauf, noch von zuhause aus, Kontakte zu jenen NGOs in Kiew geknüpft, die sie dann vor Ort in Kleingruppen (2-3 Personen) aufsuchten, um sich im Sinne ethnographischen Forschens deren Geschichte, Personal, Organisation, Arbeit, Anliegen, Verpflichtungen etc. anzunä­hern. 

 

Jonathan Schwartz, Tomorrow's Anthropology: NGOgraphy, in: Anthropology in Action 6 (1999) 1, S. 16-17.

Heather Hindman/Anne-Meike Fechter (Hgg.), Inside the Everyday Lives of Depevelopment Workers: The Challenges and Futures of Aidland, Boulder 2011.

Michi Knecht, Ethnologische Forschung in öffentlich umstrittenen Bereichen: Das Beispiel Abtreibungsdebatte und Lebensschutzbewegung in Deutschland, in: Waltraud Kokot/Dorle Dracklé (Hgg.), Ethnologie Europas: Grenzen, Konflikte, Identitäten, Berlin 1996, S. 225-240.

Michael Hardt/Antonio Negri, Empire: Die neue Weltordnung, Frankfurt/M. 2000.

William F. Fisher, Doing Good? The Politics and Antipolitics of NGO Practices, in: Annual Revue of Anthropology 26 (1997), S. 439-464, doi:10.1146/annurev.anthro.26.1.439.

Amanda Lashaw, How Progressive Culture Resists Critique: The Impasse of NGO Studies, in: Ethnography 14 (2012) 4, S. 501-522, doi:10.1177/1466138112463803.

Anastasija Leuchina, Der steinige Weg in die Zivilgesellschaft: Ukrainische Post-Tschernobyl-NGOs von ihren Anfängen bis heute, in: Melanie Arndt (Hg.), Politik und Gesellschaft nach Tschernobyl: (Ost-)Euro-päische Perspektiven, Berlin 2016, S. 78-101.

Lisa Markowitz, Finding the Field: Notes on the Ethnography of NGOs, in: Human Organization 60 (2001) 1, S. 40-46.

Sarah D. Phillips, Ukrainian NGO-graphy, in: dies., Women’s Social Activism in the New Ukraine: Development and the Politics of Differentiation, Bloomington 2008, S. 63-106.

Joel Robbins, Beyond the Suffering Subject: Toward an Anthropology of the Good, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 19 (2013) 3, S. 447-462, doi:10.1111/1467-9655.12044.

Gazi Islam, Practitioners as Theorists: Para-ethnography and the Collaborative Study of Contemporary Organizations, in: Organiza-tional Research Methods 18 (2015) 2, S. 231-251, doi:10.1177/1094428114555992.

Paul Rabinow et al., Designs for an Anthro-pology of the Contemporary, Durham 2008.